Viktor Klein Der letzte Grabhügel
Der alte Kinzels Andres-Vetter war hart krank. Im letzten
Jahr ist er zusehends zusammengefallen, der sonst doch so rüstige Alte. Da kam
noch der Erlass aller im Wolgagebiet lebenden Deutschen, das war für die
bodenständige Bauernnatur das Letzte ... Seine Verwandten wussten, dass es mit
ihm bald aus sei; er wurde von Stunde zu Stunde „all", wie es bei ihnen
hieß. Sein großes hölzernes Himmelbett war mit einem blütenweißen Tuch bedeckt
und die Kissen rochen nach frischem Wasser und Seife. Der Alte war mit sich und
der Welt allein. Nur eine lästige Fliege kam durch das offene Fenster und
setzte sich immer wieder auf das eingefallene, fahle Gesicht.
Das Kleppern von Schüsseln und Kannen, ja sogar das Ohren
zerreißende Geschrei der Schweine, die in allen Höfen in aller Eile noch für
den weiten Weg geschlachtet wurden, störten ihn nicht.
Die Tür ging leise auf. Die Gret war's, seine
Schwiegertochter. Es schien, als habe sie einen dicken Kürbis unter der
Schürze, der jeden Augenblick auf den Boden kullern könnte.
Vorsichtig langsam, einen Fuß vor den anderen setzend,
wie alle Frauen in diesem hoffnungsvollen Zustand, trat sie vor das Bett:
„Vatter, is'ses aich net bißcha leichter?" „Jo, mei Tochter, 's is
leichter; die Schmerza hän sich v'rzoucha", hauchte der Kranke mit matter
Stimme und blickte die Schwiegertochter dankbar an. „Do a bißcha Saures, das is
gut vor die Hitz'", sagte die Gret und stellte ein Kännchen mit einem
Absud auf den grobgezimmerten Schemel. Mit der rechten, graublau geäderten
Hand tastete der Alte nach der Kanne. Er tat einen langen Zug. Die grünen
Tropfen rollten übers Kinn auf das Kissen. Grete fächelte mit einem kleinen
weißen Tüchlein paarmal über dem Gesicht des Kranken und die ährengelben weichen Härchen an seinen Schläfen bewegten sich
leicht.
„Geh' nor, Gret, helf m Hannes 's Flaasch wegschaffa, ich
kann ach alah' bleiwa", flüsterte der Kranke kaum hörbar.
Vor dem offenen
Fenster, durch das noch heiße Septemberluft von der Wolga herüberwehte, hörte
man eine Schwalbe zwitschern und der alte knorrige Rüster rauschte einlullend.
Bleischwer sank der Kopf des Alten zurück in die Kissen und die faltigen Lider
fielen, wie von allein, über die Augen. Wehmut lag über seinem Gesicht. An den
prallen Adern über den Schläfen und der mit Runzeln überzogenen Stirn war zu
erkennen, dass der Alte keineswegs schlief.
„Wie wird nur der Hannes ohne mich fertig", sinnierte
der Kranke. Das Fleisch einsalzen, die Sachen verpacken {…} Da sollte man vielleicht besser ein paar Sack
Mehl mitnehmen, als all den Kram; man weiß ja nicht, wie's einem dort in der
Fremde noch ergehen wird. Nach Sibirien! Das ist halt weit! Aber doch nicht
ganz aus der Welt. Der Karl, sein ältester Bruder, war 1909 nach Omsk gezogen;
das ist doch auch dort in diesem Sibirien, wohin man uns jetzt verschickt… Wenn's
nur nicht noch weiter geht und noch schlimmer kommt, wie bei dem Karl – solche
und noch schwerere Gedanken wälzten sich wie Quadersteine in der Ungewissheit
vor ihm her... Schon einmal wurde sein Heimatdorf hier an der Wolga bis auf den
Grund aufgewühlt, so wie die Wolga beim Hochwasser, wenn der Sturm pfiff und
die Wogen an den Wasserberg schlugen. Das ist nun schon lange her und aus dem
zaristischen Ukas wurde nichts. Würden die Bolschewiken jetzt das Unfassbare...
werden die Genossen nicht doch noch zurückschrecken vor dieser Gräueltat?
Sollten sie es wagen, das Unmenschliche? {…}
Nun, das kann doch nicht möglich sein! Sicher wieder eine
Provokation dieser... Volksfeinde ... Und der Vater... und Freund aller
Werktätigen weiß bestimmt von alldem nichts. Aber... der Erlass ist doch
unterschrieben und steht in der Zeitung ... Alle Deutschen ... War unser
Kolchos nicht vorbildlich? Haben wir etwa schlecht gearbeitet?
Der Sohn drehte sich aus Zeitungspapier eine dicke
Papiros.
„Ist das nicht die Zeitung mit dem Erlass, Hannes?
Zerreiße sie nicht, nehmt se mit." Hannes legte die Zeitung sorgfältig
zusammen und steckte sie in die Innentasche seines Rockes. „Hannes, tu auch
meine Peif ein", bat der Alte. „Aach den Tuwaksack, den hot mr noch dei
Modder g'näht."
Der Sohn strich sich mit der rauen Hand über sein
sonnengebräuntes Gesicht, als wollte er etwas Unerwünschtes, Ungebetenes mit
der Hand wegwischen. In seinen Augen flimmerte die unheilvolle Ungewissheit.
In der Nacht schlief, außer den kleinen Kindern, niemand. Morgen, so der
strenge Befehl, sollte es fortgehen. Niemand wusste wohin und noch viel
weniger, was diese Zukunft an Not und Elend bringen würde.
Die Grenzer gingen, wie Gespenster um Mitternacht, immer
zu zwei mit abstehenden Taschen ihrer Schusswaffen von Haus zu Haus und feuerten
die Leute zur Eile an. Bei Kinzels traten auch zwei ein. Der eine hatte ein
vierkantiges Gesicht und einen gestutzten Schädel; der Blick seiner wässrigen
Augen war kalt und hart. Man erkannte sofort die echte Jeshowsche Schule. Der
zweite war ein dünner, langer Junge mit einem ruhigen Blick; sein Haar hing ihm
über die Stirn, sein Gesicht war bleich und abgespannt. „Wie weit seid
ihr?" fragte der erste barsch. „Wir sind so gut wie fertig",
antwortete Hannes und machte Platz am Tisch.
„Setzt euch bei, Genossen", lud er ein. Quellfleisch
und frisches Weizenbrot verbreiteten einen Duft, dass auch ein Toter Appetit
bekommen hätte. Der Lange machte freundliche Augen. Der Harte blickte ihn
streng an und zog ihn mit sich fort. Kein Wunder, man hatte ihnen ja eingehämmert,
dass hier nur „Spione" und „Divilsanten" (Diversanten – A.M.) hausen.
Die Nacht lag kühl über dem Dorf. In allen Häusern
brannte Licht. Hie und da huschten nächtliche Schatten über die Straßen. Die
Schornsteine qualmten, als ob zur Hochzeit gerichtet würde. Überall wurde
gebacken und geschmort. Ein weiter Weg ins Ungewisse stand bevor...
Der alte Andreas erhob sich mühsam, ließ die knochigen
Beine behutsam vom Bett herabgleiten, tastete nach den Filzschuhen. Behäbig
richtete er sich auf, zog den Fellpelz über die eckigen Schultern, stülpte die
verschwitzte Schildmütze über das schüttere Haar. Leise, fast wie ein Dieb,
schlich er sich hinaus. Im Backhaus hantierten Gret und Hannes. Über den
Dächern stand ätzender Mistholz- und Strohrauch. Langsam, als zähle er die
Schritte, tastete sich der Alte die Häuser entlang.
Auf dem großen Platz vor der Kirche blieb er stehen. Die
Kirche war hart mitgenommen. Schon seit zweiunddreißig hatte man sie in einen
Klub umfunktioniert. Das Kreuz hatte man heruntergeholt und der Turm ragte
jetzt in den nachtschwarzen Himmel als ein Mahnmal einer bewegten Zeit. Grenzer
überquerten den Platz; das ganze Dorf war voll von diesen unheilbringenden
Schatten.
Um sieben standen die Wagen beladen und setzten sich
knatternd in Bewegung; die Kinder und Frauen hoch oben auf dem Gepäck, die
Männer schritten bedächtig gesenkten Hauptes neben den Wagen her oder folgten
in kurzen Abständen in Gedanken vertieft, wie einem Trauerzug auf dem Friedhof.
Hinter dem Dorf machte man Halt und wartete, bis die
letzten Wagen ankamen.
Endlich war das ganze Dorf beisammen. Langsam, wie ein
Leichenzug, bewegten sich die schwerbeladenen Wagen über die harte
Muttersteppe. Plötzlich hielt der lange Zug. An einem der vordersten Wagen war
eine Achse gebrochen.
Übers Feld, kreuz
und quer, irrten herrenlose Kühe, Kälber, Ziegen und Schafe. Niemand kümmerte
sich um das Vieh. Die Kühe, aus deren prallen Eutern die Milch triefte,
schauten mit ihren großen traurigen Kuhaugen dem Leichenzug nach und konnten
scheinbar nicht begreifen, was da vor sich ging. Hinter den Wagen trollten
Hunde mit heraushängender Zunge.
Wo wollt ihr hin, ihr guten Leute? Warum verlasst ihr die
heimatliche Scholle, den trauten Wolgastrand? Bald sind es zweihundert Jahre, dass
eure Ahnen hier ankamen, ebenfalls auf der Achse. Not und Elend, Kummer und
Sorgen, Missernten und Raubüberfälle haben sie in all den Jahren reichlich
durchgestanden, bis sie diese Steppe, über die heute eure Wagen in die Fremde
rollen, urbar gemacht hatte. Und ihr? - Verlasst jetzt Haus und Hof, verlasst
dieses Land, gedüngt mit eurem Schweiß und Blut. Eine drückende Stille lag über
allen, wie vor einem schweren Gewitter.
Auf dem hohen Steppenberg hielt der Zug abermals. Die
Männer zogen ihre schweißdurchtränkten Mützen vom Kopf.
Ganz unten, aber noch gut zu sehen, lag, wie auf der
flachen Hand, das Heimatdorf. Der „geköpfte" Kirchturm blickte traurig in
die Weite; die Häuser, jetzt grau von Wind und Regen, schienen sich zum
Abschied zu verneigen.
Der alte Andreas-Vetter lag in den hohen und weichen
Aufsetzkissen und blickte mit Tränen in den Augen auf das Heimatdorf hinunter.
Das war seine Heimat und in seinen alten Tagen musste er sie verlassen... Hier
hatten seine Ahnen gelebt ... Hier hatte er sein erstes Mädchen geküsst...
Jemand knallte mit der Peitsche und der Zug setzte sich
wieder in Bewegung. Am Mittag wurde Rast gemacht, dort, wo an der Landstraße
die Grenze zum Heimatdorf verlief. Hannes stellte sofort einen Dreifuß auf und
machte sich ans Kochen. Der Alte saß in seinen Kissen und blinzelte in den
Himmel. Unter dem Wagen lag die Gret und stöhnte laut... „Hannes, ich glab 's
kommt..."
„Um Himmels Willen! Das wär' was auf diesem Weg!"
„Wasser", flehte die Schwangere. „Gleich kocht der
Tee ... beruhig' dich." Plötzlich wurde das Gesicht der Schwangeren
bleich, dann blau; die Augen gelb und feucht starrten hilfesuchend vor sich
hin.
Kurz darauf nur noch ein Schrei und die Kranke krümmte
sich vor Schmerz wie ein Wurm. Hannes rannte hilfesuchend die Wagen entlang.
Als die alte Wes Ambeth erschien, lag Grete schon in den Wehen.
Dem alten Andreas ging es von Stunde zu Stunde immer schlechter.
Seine Augen waren blass und ausdruckslos. Er lehnte in den Kissen mit dem Blick
in Richtung des verlassenen Dorfes. Nur noch einmal kam Leben in seinen
Gesichtszügen zum Ausdruck, als ein schriller Kinderschrei an sein Ohr drang
und die alte Ambeth mit einem strammen Buben vor ihn trat: „Do, des is'r, Andreas,
uf den wu mr gewart hän." Ein wehmütiges Lächeln flog über das erdfahle
Gesicht des Alten. „Hannes", sagte er mit ruhiger Stimme, „hier beerdigt
mich, an unserer Grenze, mit dem Gesicht dem Dorfe zu." Daraufhin winkte
er noch einmal mit seiner rechten Hand, als wollte er etwas sagen; die Zunge
war aber schon steif... Männer gruben ihm in aller Eile sein Grab in der Wermutsteppe...
Der Zug sollte vor Nacht noch die nächste Bahnstation
erreichen, wo man sie dann alle in Viehwaggons verladen würde ... Zurück
blieben der letzte Grabhügel des alten Kinzel, eines Wolgadeutschen, dessen
Vorfahren dieses große reiche Dorf an der Wolga gegründet hatten.
Im ersten russischen Dorf meldete Hannes den Todesfall,
ließ den Vater „austun" und den Sohn einschreiben. Grete und Hannes gaben
ihrem Neugeborenen zum Andenken an den Vater den Namen Andreas.
Diese Bauern, wettergebräunt und hart wie ihr
Heimatboden, von zäher Kraft und eisernem Willen, werden aber durchhalten und
alle Unbilden der Zeit überwinden.
Der Pausback Andreas aber wird heranwachsen und dereinst
als Mann sich seinem Großvater und seinen aufrechten und wackeren Landsleuten
als würdig erweisen...
(Leicht gekürzt. Aus „Heimatbuch der Deutschen aus
Russland. 1982-1984" S. 83-86)
|